MS: Mein Alltagsheld

Unlängst stellte ich mir die Frage, wen ich aus meinem Umfeld bewundere. Dabei ist mir mein neuer Kollege S. eingefallen.

Was ihn so besonders macht? 
Diese Situation hat mich am meisten beeindruckt: Vor einem Meeting wartete ich zusammen mit anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor dem Raum, in dem die Besprechung stattfinden sollte, darauf, dass diese endlich beginne. Während wir uns die Wartezeit mit Plaudereien, meist sitzend, verschönten, steht er, mein Held, auf. Und er sammelt sichtbar seine Kräfte und seinen Mut. Er konzentriert sich auf das, was nun kommt. Er geht ein paar Schritte! Nur wenige, nicht viele, er macht keine Riesensprünge und er läuft auch nicht. Aber diese wenigen Schritte macht er mit einer Konzentration und einer Anstrengung wie andere einen Hochleistungssport. Seine Ausdauer und seine Konzentrationsfähigkeit sind mehr als bewundernswert. 
Im Stillen staune ich über das, was ich sehe und miterlebe. Kollege S. kommt manchmal mit dem Auto und parkt auf dem Behindertenparkplatz, manchmal fährt er aber auch mit dem Zug und nimmt Walking-Sticks zur Hilfe. Er hat auch, wenn er mit dem Auto kommt, einen Rollstuhl dabei und ich weiß, dass er, wie ich, unter Multipler Sklerose leidet. 
Ich konzentriere mich darauf, meine Krankheit zu verheimlichen und dass ich zu diesem Verheimlichen möglichst lange fähig sein werde. Er hingegen kämpft um jeden Schritt. Aber Kollege S. ist nicht verbittert oder frustriert.

Kollege S. erledigt seine Arbeit wie ich und die anderen. 

Ja, den Raum kann er nicht schnell verlassen, wenn er das möchte, aber dies spielt keine Rolle. Hört man sich im Team um, wird schnell sichtbar, dass er gut integriert ist, eine gute Arbeit leistet und für seine Anstrengungen geschätzt wird.

Man begegnet ihm nicht mit Mitleid oder dergleichen. Man begegnet ihm mit Respekt, den er sich durch sein Engagement verdient hat.

Kollege S. gibt mir Hoffnung, obwohl er das nicht weiß, möglichst nie wissen wird. 

Aber sollte er es eines Tages wissen, ist er der lebende Beweis für ein stabiles Leben. Es ist nicht das Ende, auf Gehhilfen angewiesen sein zu müssen. Nein, es kommt auf die eigene Einstellung zu sich und seinem Leben an. Kollege S. hat es trotz Einschränkungen geschafft, geschätzt und respektiert zu werden. Kollege S. hat Fähigkeiten, die andere nicht haben und in seinem Beruf von Bedeutung sind. Darum ist er ein wichtiger Teil des Teans und auch MS kann daran nichts ändern.

Ich lerne aus seinem Verhalten, nicht aufzugeben.

Auch wenn sich meine Symptome eines Tages verschlimmern sollten, kann ich immer noch einen wichtigen Teil im privaten und beruflichen Bereich beitragen. Kollege S. hat den Mut gefunden, wieder aufzustehen. Nicht im Rollstuhl sitzen zu bleiben, er wagt es, Schritte auch ohne Stöcke zu setzen. Er ist für mich ein Vorbild, wenn ich mich schwach fühle.

 

MAT-AT-2400495-V1.0-06/2024